Hemmkörperbildung bei angeborener Hämophilie

Alle Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper sind fein aufeinander abgestimmt. Gibt es in einem System Störungen, kann die moderne Medizin dies in vielen Fällen durch Medikamente und Therapien ausgleichen.

Allerdings gelingt das nicht immer. Ein Beispiel dafür ist die Bildung von Hemmkörpern bei der Behandlung der angeborenen Hämophilie mit Gerinnungsfaktoren.

Störung der Gerinnungskaskade

Die Blutgerinnung läuft in einer Kaskade ab, an der Blutplättchen (Thrombozyten) und verschiedenen Eiweiße, die sogenannten Gerinnungsfaktoren, beteiligt sind. Sie werden mit römischen Ziffern von I bis XIII durchnummeriert und liegen in einer inaktiven Form immer im Blut vor. Bei Verletzung eines Blutgefäßes kommt es zu einer Kettenreaktion, durch die nacheinander alle Faktoren aktiviert werden – wie bei einer Reihe Dominosteine, bei der immer der nächste Stein durch den vorherigen umgestoßen wird. Der erste Faktor in der Reihe wird durch die Wunde selbst aktiviert; der zweite Faktor wird durch die aktivierte Form des ersten aktiviert, usw.

Die Baupläne für die Gerinnungsfaktoren werden durch unsere Gene definiert. Bei der angeborenen Hämophilie ist eines dieser Gene defekt und liefert einen fehlerhaften Bauplan. Dadurch ist der Körper nicht in der Lage, diesen Gerinnungsfaktor zu bilden. Bei der Hämophilie A ist es der Gerinnungsfaktor VIII (8), bei Hämophilie B der Faktor IX (9). In beiden Fällen wird dadurch die Gerinnungskaskade unterbrochen, als würde man einen Dominostein aus einer Kette entfernen. Damit die Blutgerinnung vollständig funktioniert, müssen jedoch alle Dominosteine umfallen.

Faktorersatztherapie

 

Da man weiß, welcher Stoff fehlt, kann man ihn von außen zuführen. So funktioniert die Faktorersatztherapie: Die fehlenden Gerinnungsfaktoren werden ersetzt. Die Ersatzstoffe (Gerinnungsfaktorkonzentrate) werden aus Blutplasma gewonnen oder rekombinant (biotechnologisch) hergestellt und direkt in die Vene gespritzt.

Damit ist die Dominostein-Reihe wieder vollständig, und das Blut gerinnt im Bedarfsfall ganz normal. Doch hat man mitunter die Rechnung ohne den Wirt gemacht – oder in diesem Fall ohne den Türsteher.

Das Immunsystem – der Türsteher des Körpers

 

Unser Immunsystem ist dafür verantwortlich, dass nichts in den Körper eindringt oder sich in ihm aufhält, was nicht dazu gehört und von Nutzen ist. Es greift Krankheitserreger an und zerstört nutzlose, schädliche oder defekte Zellen. Erkennt das Immunsystem körperfremde Zellen oder Eiweiße, bildet es Antikörper, die sich an die Eindringlinge anheften. Derart markierte Zellen oder Eiweiße werden dann vom Immunsystem zerstört.

Einmal erkannte Fremdstoffe merkt sich das Immunsystem. Antikörper können dann schneller gebildet und die Bedrohung kann früher abgewendet werden. Diesem Mechanismus haben wir es zu verdanken, dass wir gegen viele Krankheiten immun werden, wenn wir sie einmal hatten. „Immun sein“ bedeutet, dass unser Immunsystem die Erreger bereits ausschaltet, ehe sie ernsthaften Schaden anrichten können, also Symptome der Krankheit verursachen.

Das Dilemma mit dem Türsteher

 

Bei der Therapie mit Gerinnungsfaktorkonzentraten werden dem Körper fremde Proteine zugeführt. Bei einem Teil der behandelten Patienten bildet das Immunsystem Antikörper gegen die therapeutischen Gerinnungsfaktorkonzentrate. Insbesondere bei der schweren Hämophilie, bei der der Körper selbst keinen Faktor bildet, wird der substituierte (zugeführte) Faktor als Fremdprotein erkannt, und der Körper bildet Antikörper. Da dadurch die Blutgerinnung erneut gehemmt wird, spricht man bei speziell diesen Antikörpern auch von Hemmkörpern.

Die verabreichten Gerinnungsfaktoren werden dadurch rasch in ihrer Wirkung blockiert, so dass diese nicht mehr oder nur noch eingeschränkt wirken können.

Erworbene Hämophilie

 

In seltenen Fällen richtet sich das Immunsystem gegen gesunde, körpereigene Zellen. Dadurch sabotiert der Körper sich häufig selbst und zerstört einzelne Bestandteile von Stoffwechselwegen. Man spricht in diesem Fall von Auto-Immunerkrankungen.

Patienten, die unter erworbener Hämophilie leiden, verfügen über intakte Gene zur Bildung der Gerinnungsfaktoren. Aus nicht vollständig geklärten Ursachen richtet sich das Immunsystem im Verlauf des Lebens plötzlich gegen den körpereigenen und voll funktionsfähigen Gerinnungsfaktor (meist Faktor VIII), und bildet Hemmkörper, die den Gerinnungsfaktor blockieren. Das entstehende Krankheitsbild der erworbenen Hämophilie gleicht dem der angeborenen Hämophilie mit Hemmkörperbildung.

Erfahre mehr über erworbene Hämophilie

Warum reagiert nicht jedes Immunsystem?

 

Warum das Immunsystem eines Patienten die zugeführten Gerinnungsfaktoren akzeptiert, während das eines anderen Patienten kurz nach Beginn der Therapie dagegen angeht, ist bislang weitgehend unklar. Es sind lediglich einige Faktoren bekannt, die das Risiko für die Hemmkörperbildung erhöhen:

  • Hemmkörper werden bei Hämophilie A deutlich häufiger beobachtet (etwa 30 bis 45%) als bei Hämophilie B (etwa 3 bis 5%).
  • Die Hemmkörperbildung tritt häufiger bei schwerer Hämophilie und bei ganz bestimmten genetischen Fehlern („Mutationstypen“ im Faktor VIII- oder IX-Gen) auf.
  • Weitere Ursachen werden im Immunsystem selbst oder eher in der „Umwelt“ vermutet. Darunter fällt die Art der Behandlung von Patienten mit Hämophilie und Hemmkörpern, die sich möglicherweise auf die weitere Entwicklung der Hemmkörperspiegel auswirken kann, zum Beispiel eine sehr frühe Behandlung einer schweren Blutung mit hohen Faktordosierungen.
  • Auch wenn bereits ein Familienmitglied einen Hemmkörper hatte, ist das Risiko erhöht.
  • Menschen mit verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten haben ein unterschiedliches Risiko.

Bei Patienten mit starker Hemmkörperbildung kann es nach dem Absetzen des Gerinnungsfaktorkonzentrats zu einer spontanen Rückbildung der Hemmkörper im Blut kommen. Allerdings ist dieser nicht verschwunden, sondern steigt wieder an, wenn erneut ein entsprechendes Faktor VIII- oder IX-Präparat verabreicht wird. Das Immunsystem hat sich den Faktor als Fremdprotein „gemerkt“.

Wann treten Hemmkörper auf?


Wenn Hemmkörper auftreten, bilden sie sich oft bereits am Anfang einer (Gerinnungs-)Faktorersatztherapie. Das größte Risiko besteht nach den ersten 9 – 50 Verabreichungstagen. Für Patienten, die 100 Verabreichungstage mit dem Gerinnungsfaktor ohne die Ausbildung von Hemmkörpern überstanden haben, ist das Risiko einer Hemmkörperentwicklung äußerst gering. Daher erfolgen zu Beginn der Therapie regelmäßige Laborkontrollen zur Hemmkörperbestimmung.

 

Wie werden Hemmkörper nachgewiesen?


Bei Patienten, deren Immunsystem sehr stark auf den Faktorersatz reagiert, zeigt sich die Ausbildung der Hemmkörper an der Unwirksamkeit der Behandlung. Das Therapieversagen macht sich häufig in den ersten Wochen bemerkbar, wenn trotz Therapie anhaltende oder spontane Blutungen auftreten. Laboruntersuchungen können die Menge an Hemmkörpern im Blut nachweisen und dadurch auch eine leichte Hemmkörperbildung aufdecken.

Als Maß für die Hemmkörperbildung wurde die sogenannte Bethesda-Einheit (BE) definiert. Werte oberhalb von 5 BE pro Milliliter Plasma bezeichnen eine starke Hemmkörperbildung („hochtitriger Inhibitor/Hemmkörper“). Bei Werten von weniger als 5 BE pro Milliliter Plasma spricht man von einer schwachen Hemmkörperbildung („niedrigtitriger Inhibitor/Hemmkörper“). Je höher der Wert ist, umso stärker und schneller wird der Faktor abgebaut.

Wie sieht die Faktortherapie bei Hemmkörperbildung aus?


Bei Patienten mit einem niedrigtitrigen Hemmkörper kann die Behandlung mit dem entsprechenden Faktorpräparat in den meisten Fällen fortgesetzt werden. Manchmal sind einfach nur höhere Dosierungen erforderlich. Die Weiterbehandlung der Patienten mit einem hohen Hemmkörpertiter ist in der Regel schwieriger und mit einem höheren Therapieaufwand verbunden. Das entsprechende Faktorpräparat wirkt bei diesen Patienten nicht mehr und eine Dosiserhöhung führt in der Regel nur dazu, dass der Hemmkörper weiter ansteigt.

Bei der Behandlung von Patienten mit Hämophilie und Hemmkörpern unterscheidet man eine kurzfristige Strategie (Blutungsstopp) von der Langzeitstrategie, die auf eine Beseitigung des Hemmkörpers durch eine sogenannte Immuntoleranztherapie abzielt.

Bei Patienten mit Hämophilie und Hemmkörpern muss eine individuelle Behandlungsstrategie entwickelt werden, die in der Akutsituation, aber auch langfristig greift. Das Vorgehen hängt unter anderem vom Alter des Patienten und vom Ausmaß der Hemmkörperbildung ab.

Akutbehandlung: Blutungsstopp

Bei niedrigtitrigen Hemmkörpern (<5 BE) können Betroffene die Faktorenkonzentrate zur Stillung akuter Blutungen meist weiterverwenden und sich bei entsprechender Dosisanpassung auch Operationen unterziehen.

Bei hochtitrigen Hemmkörpern (>5 BE) benötigen die Patienten in der Akutsituation andere Behandlungsstrategien, da die entsprechenden Faktorkonzentrate nicht wirken. Hier kommen sogenannte Bypass-Präparate zum Einsatz. Diese umgehen die Faktor VIII- oder IX-Wirkung im Gerinnungssystem und führen dadurch zu einer Blutstillung.

Am Beispiel der Dominoreihe bedeutet dies, dass die Kette unterbrochen ist und auf dem regulären Weg die hinteren Steine nicht aktiviert und damit umgeworfen werden können. Die therapeutische Lösung ist, den aktivierten Faktor (den umgeworfenen Stein) von außen in die Kette einzufügen.

Bypass-Präparate

In Deutschland stehen zwei Bypass-Präparate zur Verfügung:

Ein biotechnologisch hergestellter aktivierter Faktor VII (7), der auch als rFVIIa bezeichnet wird. Das kleine r steht dabei für „rekombinant“, was den biotechnologischen Ursprung kennzeichnet. Das kleine a bedeutet „aktiviert“. Da rFVIIa technisch hergestellt wird, ist es frei von Bestandteilen aus menschlichem Spenderblut.

Das zweite Präparat wird aus menschlichen Blutspenden hergestellt und enthält mehrere bereits aktivierte Faktoren. Es wird als aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat (aPCC) bezeichnet. In ihm sind neben aktiviertem Faktor II (2), VII (7), IX (9) und X (10) auch noch geringe Mengen Faktor VIII (8) enthalten.

Was das optimale Präparat für den Patienten ist, wird individuell entschieden.

Langzeitstrategie bei hochtitrigen Hemmkörpern: Immuntoleranztherapie (ITT)

Mit der Immuntoleranztherapie (ITT) soll die Hemmkörperbildung dauerhaft überwunden werden. Das genaue Behandlungsschema richtet sich nach der Höhe des Antikörpertiters und des Hämophilietyps (A oder B). Die ITT hat sehr gute Erfolgsaussichten. Wenn nicht, können andere Medikamente zum Einsatz kommen, die das Immunsystem unterdrücken.

Die ITT bei hochtitrigen Hemmkörpern gegen Faktor VIII basiert auf der hoch dosierten Gabe von Faktorkonzentraten, die zweimal täglich injiziert werden. Für die Hämophilie B sind oft andere Therapieschemata erforderlich. Das Ziel der Therapie ist, dass sich das Immunsystem an den Faktor gewöhnt, der durch die ITT dauerhaft in sehr hoher Konzentration im Körper ist, und daher nicht mehr mit der Bildung von Hemmkörpern reagiert. In diesem Fall spricht man von einer Hemmkörperelimination.

Bis dieses Ziel erreicht ist, muss die Behandlung und die Vorbeugung von Blutungen während der ITT in der Regel durch Bypass-Präparate erfolgen. Bei der ITT handelt es sich häufig um eine sehr langwierige Therapie. Sie kann Monate und im Extremfall sogar bis zu zwei Jahre dauern. Zu Beginn der Therapie kann es sogar zunächst noch zu einem Anstieg des Hemmkörpers kommen. Die Voraussetzung für einen Therapieerfolg ist eine konsequente Durchführung ohne Unterbrechung. Daher erfordert die ITT von allen Beteiligten viel Geduld, Kraft und Ausdauer. In den meisten Fällen steht an ihrem Ende jedoch ein Erfolg, der den Betroffenen eine Weiterbehandlung mit ihrem Präparat ermöglicht.

Kurz und knapp

  • Das Immunsystem ist dafür verantwortlich, körperfremde Zellen und Eiweiße zu beseitigen. Bei der Behandlung der Hämophilie kann sich das Immunsystem gegen den therapeutischen Faktorersatz richten und Hemmkörper gegen ihn bilden. Dadurch kann der Faktorersatz nicht mehr wirken und es kommt erneut zu Blutungen.
  • In seltenen Fällen bildet das Immunsystem auch Hemmkörper gegen die körpereigenen Gerinnungsfaktoren, die dadurch zerstört werden (erworbene Hämophilie).
  • Die Therapie der Hämophilie mit Hemmkörperbildung verfolgt zwei Ziele: Für die Akutbehandlung zur Stillung von Blutungen stehen verschiedenen Bypass-Präparate zur Verfügung. Diese umgehen die Wirkung von Faktor VIII und IX im Gerinnungssystem. Die Langzeittherapie zielt auf eine Eliminierung der Hemmkörper ab. Therapie der Wahl ist die Immuntoleranztherapie (ITT).
     

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