Warum ist es wichtig, dass sich auch Hämophilie-Patienten regelmäßig bewegen? Welche Vorteile bringt ihnen der Sport?

Rosenthal: Sport und Bewegung sind grundsätzlich für alle Menschen wichtig – auch für Patienten mit Hämophilie. Beim Sport werden Ausdauer, Muskelkraft und Beweglichkeit trainiert. Menschen, die sich bewegen, fühlen sich fitter und selbstbewusster. Regelmäßiger Sport hilft außerdem, Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen, die mit zunehmendem Alter häufiger auftreten.

Speziell für Menschen mit Hämophilie ist Bewegung außerdem eine Möglichkeit, den Verlauf ihrer Krankheit positiv zu beeinflussen. Auch wenn das zunächst paradox erscheint: Hämophilie-Patienten sollten Sport treiben, um das Blutungsrisiko zu reduzieren. Denn sportliche Menschen sind meist beweglicher, kräftiger und haben eine bessere Koordinationsfähigkeit. Das Verletzungsrisiko ist bei untrainierten Personen höher.

Marc Rosenthal
Physiotherapeut, Gerinnungszentrum Rhein Ruhr

Bianca Wiese
Physiotherapeutin, Klinikum Bremen-Mitte

Wenn Kinder die Diagnose „Hämophilie“ bekommen, würden Eltern sie am liebsten in Watte packen und gar keine Bewegung zulassen. Tun sie ihren Kindern damit einen Gefallen?

Wiese: Nein, im Gegenteil. Eine Überbehütung könnte sogar Schäden anrichten. Kinder, die daran gehindert werden, ihre natürliche Bewegung zu entwickeln und auszuprobieren, neigen eher durch Ungeschicklichkeit zu Unfällen. Im Kindesalter schafft eine sichere motorische Entwicklung die Grundlage für spätere kraftvolle, koordinierte Bewegungen, die damit das Risiko einer Blutung verringern. Ähnlich wie bei Erwachsenen ist bei Kindern mit Hämophilie die Verletzungsgefahr höher, wenn sie nicht trainiert oder bewegungserfahren sind. Eltern, aber auch Erzieher und andere Betreuungspersonen sollten Bewegungserfahrungen daher unbedingt zulassen, die Kinder in ihrer Bewegung jedoch begleiten.

Welche Rolle spielt eine gut eingestellte Therapie beim Thema Sport mit Hämophilie?

Rosenthal: Die Empfehlung, dass Menschen mit Hämophilie möglichst keinen Sport treiben sollten, stammt aus einer Zeit, in der es noch keine hochwirksamen Faktorpräparate gab, die vor Blutungen schützten. Das ist heute glücklicherweise anders. Hämophilie-Patienten können und sollen sogar Sport treiben. Die Voraussetzung dafür ist, dass regelmäßig Faktorenpräparate gespritzt werden, um einen ausreichend hohen Spiegel im Blut zu gewährleisten.

Mittlerweile gibt es gentechnologisch hergestellte Faktorpräparate mit verlängerter Halbwertszeit, die sich langsamer im Körper abbauen. Das bedeutet, dass Patienten bei gleichbleibendem Injektions-Intervall zwischen diesen Faktorgaben einen höheren Faktorspiegel im Blut haben und dadurch besser geschützt sind. Das gilt insbesondere beim Sport, aber auch während der Physiotherapie.

Welche Rolle spielt Physiotherapie für Menschen mit Hämophilie?

Rosenthal: Bei Patienten mit Hämophilie sind häufig viele Bereiche des Bewegungsapparats belastet. Sie haben mit Funktionseinschränkungen, Versteifungen und Schmerzen zu kämpfen. Diese kann eine Physiotherapie lindern. Regelmäßige Physiotherapie verbessert die Koordination und das Gleichgewicht, stabilisiert Bewegungsabläufe und hilft auf diese Weise, Verletzungen vorzubeugen. Gleichzeitig werden die Muskeln aufgebaut und der Körper mobilisiert. Das trägt dazu bei, dass die Gelenkfunktionen erhalten, Folgeschäden verhindert und Beschwerden reduziert werden. Die Patienten gewinnen an Lebensqualität.

Wiese: Speziell für Kinder mit Hämophilie ist eine Physiotherapie außerdem wichtig, um ihre motorische Entwicklung zu begleiten. Das Ziel ist es, sie zur Bewegung zu motivieren und ihnen dabei das Verständnis dafür zu vermitteln, was sicher ist.

Seit Januar 2021 wurde die Heilmittel-Richtlinie der GKV aktualisiert, der Heilmittelkatalog ergänzt. Was bedeutet das für die Therapie von Menschen mit Hämophilie?

Wiese: Durch die Ergänzung des Heilmittelkatalogs können Ärzte ihren Hämophilie-Patienten nun auch langfristig Physiotherapie verordnen. Also auch für einen längeren Zeitraum von bis zu einem Jahr. Die Patienten profitieren von einer dauerhaften, regelmäßig stattfindenden Physiotherapie. Und es ist eine Erleichterung, dass sie nicht alle paar Wochen den Weg in ihr Gerinnungszentrum antreten müssen, um eine neue Verordnung zu bekommen.

Ich hoffe außerdem, dass durch diese Ergänzung des Heilmittelkatalogs auch bei den Ärzten und bei anderen Physiotherapeuten das Thema noch mehr in den Fokus rückt und mehr Hämophilie-Patienten regelmäßig Physiotherapie erhalten.

Bestehen bei diesem Thema denn Berührungsängste?

Rosenthal: Zum Teil ja, und zwar auf allen Seiten. Nicht selten befürchten Patienten und Physiotherapeuten, dass es durch die Therapie zu Blutungen kommen kann – was auch nicht vollständig auszuschließen ist. Und als Folge findet dann in vielen Fällen keine Physiotherapie statt. Was im Grunde viel schwerer wiegt als die Blutungsgefahr bei gut eingestellten Patienten.

Um diese Berührungsängste abzubauen, bieten wir in der HaemAcademy mit einem interdisziplinären Team aus Ärzten und Therapeuten Schulungen für Physiotherapeuten an. Wir vermitteln Fakten zum Krankheitsbild Hämophilie und zeigen den Teilnehmern, wie sie Hämophilie-Patienten sicher behandeln können. Finanziert werden die Fortbildungen von dem Pharmaunternehmen Novo Nordisk. Für die Teilnehmer sind sie kostenfrei.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit etwa zwischen Hämostaseologen und Physiotherapeuten ist bei der Hämophilie besonders wichtig. Wie gelingt sie in der Praxis?

Rosenthal: Eine enge Kooperation zwischen den behandelnden Ärzten und Physiotherapeuten ermöglicht eine umfassende, vorausschauende und sichere Therapie. Die Behandlung kann leichter auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet werden. So ist außerdem sichergestellt, dass Patienten dann behandelt werden, wenn ihr Faktorspiegel im Blut hoch genug ist.

Ich therapiere zum Beispiel Patienten direkt im Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr. Hier ist für jeden Patienten einmal im Quartal ein Physiotherapie-Termin eingeplant – egal, ob aktuell Beschwerden bestehen oder nicht. Denn im Rahmen solcher „Check-ups“ können wir Therapeuten auch sogenannte stille Symptome, also Fehlfunktionen, die noch keine Schmerzen verursachen, aufdecken und behandeln, bevor sie Probleme bereiten. Es lohnt sich also, aktiv interdisziplinäre Netzwerke zu bilden.

 

Erschienen in themenbote MEDIZIN Juni 2021.
Mit freundlicher Genehmigung von Themenbote GmbH.


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