Moderne Präparate ersetzen den fehlenden Faktor im Blut

Menschen mit Hämophilie haben keinen oder zu wenig Gerinnungsfaktor in ihrem Blut. Moderne Faktorpräparate ersetzen den fehlenden Gerinnungsfaktor im Körper, schützen vor Blutungen und ermöglichen so ein fast ganz normales Leben. Sie sorgen dafür, dass die Blutgerinnung wieder funktioniert, indem sie das fehlende Glied im Gerinnungsprozess ersetzen. Besonders Menschen mit schwerer Hämophilie profitieren von der prophylaktischen Behandlung, bei der regelmäßig und vorbeugend fehlender Gerinnungsfaktor gespritzt wird. So kann verhindert werden, dass Blutungen überhaupt entstehen. Auch die Gelenke werden geschont. Die Dosierung und die Häufigkeit bei der vorbeugenden Therapie hängen davon ab, welches Präparat dir dein Arzt verschriebenen hat und wie dein Körper den Wirkstoff aufnimmt und verarbeitet. Dein Therapieplan wird entsprechend vom behandelnden Arzt festgelegt.

Aber was passiert genau im Körper und wie lange wirkt der Gerinnungsfaktor? Was muss ich bei der Behandlung beachten? Fragen über Fragen, auf die du hier die Antworten findest.

Was ist eigentlich Pharmakokinetik?

Die Pharmakokinetik ist ein Bereich der Pharmakologie. Pharmakologie ist die Wissenschaft von den Arzneimitteln. In der Pharmakokinetik wird untersucht, wie der menschliche Körper ein bestimmtes Medikament aufnimmt (Fachbegriff: Resorption), verteilt (Fachbegriff: Distribution) und wieder abbaut (Fachbegriff: Metabolisierung). Oder mit anderen Worten: In der Pharmakokinetik werden die Konzentrationsverläufe von Arzneistoffen im menschlichen Körper erforscht. Ein Verständnis dafür ist wichtig, denn Medikamente können bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich wirken.

Pharmakokinetik und Hämophilie

Um genau zu verstehen, wie die Medikamente zur Behandlung deiner Hämophilie bei dir wirken, besteht die Möglichkeit, deine individuelle Pharmakokinetik zu bestimmen. Dazu wird dir vor einer Injektion Blut und zu bestimmten Zeitpunkten nach der Faktorgabe Blut abgenommen. Um zu erfahren, wie dein Körper das Medikament verarbeitet, ist es für den Arzt wichtig zu wissen, wann die Faktorkonzentration in deinem Blut am höchsten ist („Peak“) und wie schnell dein Körper das Medikament wieder abbaut (Halbwertszeit).

Wann ist der Schutz am höchsten?

Innerhalb von einem bestimmten Zeitraum, nachdem du dir den Gerinnungsfaktor gespritzt hast, ist dessen Konzentration im Blut am höchsten. Das kann zum Beispiel – je nach Medikament – etwa eine halbe Stunde nach der Faktorgabe sein. Die Faktorkonzentration erreicht dann ihren Höhepunkt oder „Peak“. Zu diesem Zeitpunkt bist du optimal geschützt. Deshalb wird zur Bestimmung deiner individuellen Pharmakokinetik nach der Injektion Blut entnommen, um den höchsten Faktorspiegel zu ermitteln. Von „Recovery“ sprechen Ärzte, wenn sie messen, wie viel vom gespritzten Faktor zu diesem Zeitpunkt von deinem Körper aufgenommen wurde. Das kann bei jedem Menschen verschieden sein.

Was ist die Halbwertszeit?

Wer vorbeugend Faktorpräparat erhält, spritzt sich in regelmäßigen Abständen eine vom Arzt festgelegte Dosis Gerinnungsfaktor. Dass dieser Vorgang wiederholt werden muss, liegt daran, dass der Körper das Medikament in einem bestimmten Zeitraum wieder abbaut. Um die gewünschte Wirkung aufrecht zu erhalten, muss das Medikament im Körper also laufend erneuert werden. Die Halbwertszeit beschreibt den Zeitraum, in dem die Konzentration des verabreichten Faktors auf die Hälfte sinkt. Damit der Arzt den optimalen Zeitpunkt bestimmen kann, an dem du dir erneut Faktor spritzen solltest, ist es hilfreich, wenn er deine individuelle Halbwertszeit kennt. Die wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Dein Alter, zum Beispiel, spielt für die Halbwertszeit eine Rolle.

Talspiegel = niedriger Schutz vor Blutungen

Der Talspiegel beschreibt den Moment, an dem dein Körper den Großteil des Medikaments abgebaut hat und du nur noch wenig Gerinnungsfaktor im Blut hast. In dieser Phase – also meist kurz vor der erneuten Injektion – sind Menschen mit Hämophilie anfälliger für Blutungen durch Verletzungen oder spontane Blutungen. Das Medikament kann nicht mehr die volle Wirkung entfalten.

Schematische Darstellung einer Hämophilie-A-Behandlung alle zwei Tage

Ein Beispiel für die Wirkungsweise bei Hämophilie A

Klaus hat Hämophilie A und spritzt sich am Donnerstagabend 1000 Einheiten Gerinnungsfaktor. Eine halbe Stunde nach der Injektion erreicht die Konzentration ihren höchsten Spiegel. Etwa 10-12 Stunden später, am Freitagmorgen, hat Klaus nur noch die Hälfte, also 500 Einheiten Gerinnungsfaktor in seinem Blut. 48 Stunden später, am Samstagabend, sind nur noch 125 Einheiten übrig – der Schutz vor Blutungen sinkt. Der behandelnde Arzt wird die Behandlung so ausrichten, dass der Gerinnungsfaktor im Blut bei der prophylaktischen Behandlung nicht unter 1% fällt. Bei Operationen oder in Akutfällen wird die Dosierung entsprechend angepasst. Für Klaus bedeutet das, dass er seine Aktivitäten so ausrichten sollte, dass belastendere Tätigkeiten zeitlich mit dem höchsten Schutz zusammenfallen.

Wie oft sollten sich Menschen mit Hämophilie Gerinnungsfaktor spritzen?

Die Frage, wie oft Gerinnungsfaktor gespritzt werden sollte, um einen optimalen Schutz zu gewährleisten, ist leider keine, die sich „on the fly“ beantworten lässt. Die Sachlage ist hier etwas komplizierter. Aber keine Sorge: Nimm dir gemeinsam mit deinem behandelnden Arzt Zeit, um über die folgenden Dinge zu sprechen. Dann wirst du mit Sicherheit eine Therapieform finden, die dafür sorgen kann, dass die Hämophilie in deinem Leben nur die Nebenrolle spielt. Die folgenden Fragen sind ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer Therapie, die zu deinem Leben passt.

  • Welchen Schweregrad hast du?
    Wie oft und wie viel Faktor gegeben werden muss, hängt auch davon ab, wie schwer deine Hämophilie ausgeprägt ist. Bei einer leichten Hämophilie verfügt der Körper noch über kleine, eigene Reserven an Gerinnungsfaktor, bei einer schweren Hämophilie können auch die (fast) vollständig fehlen.
  • Wie ist deine individuelle Pharmakokinetik?
    Um die optimale Therapieform zu ermitteln, ist es hilfreich, deine individuelle Pharmakokinetik zu kennen. Das gilt besonders, wenn du in der Vergangenheit schon einmal die Erfahrung gemacht hast, dass die verordneten Hämophiliemedikamente nicht wie gewünscht gewirkt haben.
  • Hast du Hämophilie A oder Hämophilie B?
    Für die Intervalle, in denen du dich spritzen musst, kann es einen Unterschied machen, ob du von Hämophilie A oder B betroffen bist. Menschen mit Hämophilie B profitieren davon, dass die Verweildauer des Medikaments im menschlichen Körper in der Regel etwas länger anhält. Während Menschen mit Hämophilie A sich bei einer Standardbehandlung in der Regel drei Mal in der Woche prophylaktisch Gerinnungsfaktor spritzen, reichen bei Hämophilie B meist zwei Gaben pro Woche aus. Für sehr schwere Formen der Hämophilie können andere Intervalle gelten. Für Hämophilie A und B gibt es mittlerweile Medikamente mit einer deutlich verlängerten Halbwertszeit. Bei diesen Präparaten wird bei Hämophilie A die erneute Faktorgabe etwa alle vier bis sieben Tage notwendig. Menschen mit Hämophilie B kommen bei Faktorpräparaten mit verlängerter Halbwertszeit sogar sieben oder mehr Tage ohne Injektion aus.
  • Welcher Typ bist du?
    Welche Behandlungsform für dich die beste ist, hängt auch von deinem Lebensstil, deinem Gesundheitszustand und deinen persönlichen Vorlieben ab. Präparate mit Standard-Halbwertszeit müssen zwar häufiger gespritzt werden, haben aber auch den Vorteil des häufigeren Peak-Schutzes. Wer auf ein Präparat mit verlängerter Halbwertszeit setzt, muss sich weniger oft spritzen. Das kann im Alltag oder auf Reisen eine enorme Erleichterung sein. Auch für Säuglinge oder Menschen mit schlechtem Venenzugang sind seltenere Injektionen erstrebenswert. Aber auch wenn du körperlich sehr aktiv bist und auf den Schutz häufiger Peaks Wert legst, musst du nicht auf die Vorteile von Präparaten mit verlängerter Halbwertszeit verzichten: Sie bieten einen ebenso verlässlichen Schutz wie die mit Standard-Halbwertszeit und du kannst die Faktorgaben deinem persönlichen Aktivitätslevel anpassen.
     

Den Alltag synchronisieren

Egal, auf welche Therapieform am Ende die Wahl fällt – es ist wichtig zu wissen, dass dein Medikament Höhen und Tiefen in der Wirkungsweise hat. So kannst du deine Pläne und deinen Alltag mit der Faktorgabe synchronisieren und bist optimal geschützt, wenn du es brauchst.

Am besten ist es, wenn du an Tagen mit belastenderen Aktivitäten Faktor spritzt. Das könnten zum Beispiel sein:

  • Sportliche Aktivitäten
  • Physiotherapie
  • Soziale Events (Hochzeiten, Familientreffen …)
  • Schul- oder Kindergartenausflüge
  • Reisetage
  • Gartenarbeit

Die Tage, an denen absehbar ist, dass die körperliche Belastung gering ist, sollten mit den Tagen mit niedrigerem Schutz zusammenfallen.

Der Wechsel von hohen und niedrigeren Faktorspiegeln ist übrigens kein Grund auf Sport zu verzichten. Im Gegenteil! Sport stärkt die Muskeln und Gelenke, macht dich fit und kann das Blutungsrisiko sogar senken. Wie du die passende Aktivität für dich findest, haben wir im Artikel Finde die richtige Sportart zusammengefasst.

Alles Wichtige zur Behandlung bei Hämophilie erfährst du im Artikel Medikamentöse Therapie bei Hämophilie.


Das könnte dich auch interessieren